Samstag, 5. November 2011

Ansehen

Sie sieht durch das Fenster im ersten Stock, wie er sich auszieht. Sie sieht ihn an, sieht jeden Muskel an ihm. Das orange Licht der Straßenlaterne bricht in den Regentropfen, die an ihre Stirn herunterlaufen. Ihre Haare kleben nass in ihrem Gesicht. Ihre Kleidung klebt ihr. Ein leises Zittern durchfährt ihren Körper.
Sie klingelt an der Haustür. Es surrt, sie läuft die Treppen hoch. Die Regentropfen laufen am Fenster zum Hinterhof hinunter. Er steht in der Tür, die Arme an den Türsturz gelehnt. Sie sieht ihn an, sieht jedes Haar an ihm. Er sieht sie an, sieht sie. Sie läuft an ihm vorbei in die Wohnung. Sie zieht die Schuhe aus. Jede Tür steht offen, sie geht an der Küche vorbei, am Wohnzimmer, am Arbeitszimmer, ins Schlafzimmer. Sie zieht sich aus, legt ihre Sachen zusammen und geht ins Bad.
Er folgt ihr. Er beobachtet sie und hängt ihre Kleidung auf.
Sie steht vor dem Waschbecken und sieht sich seinen Rasierapparat, seine Zahnbürste, seinen Kamm an. Sie macht eine Schranktür auf, Duschzeug. Sie macht die nächste auf, Medikamente. Sie greift in das Regal und nimmt sich ein Handtuch. Sie legt es in das Waschbecken und steigt unter die Dusche. Warmes Wasser prasselt auf ihren Körper. Sie dreht das Wasser ab und seift sich ein. Sie braust sich ab. Letzte Wassertropfen rinnen an ihr herunter. Sie nimmt das Handtuch aus dem Waschbecken und trocknet sich ab. Sie legt das Handtuch auf den Boden und rubbelt ihre Füße trocken. Sie öffnet das Fenster, kühle Luft strömt in das Bad hinein und vertreibt den Wasserdampf ihrer Dusche. Sie verlässt das Bad, ihre Füße machen ein leises Geräusch, wenn sie auftritt. Sie geht ins Schlafzimmer. Sie setzt sich auf die Bettkante und vergräbt ihre Zehen im weichen Teppich.
Er steht in der Schlafzimmertür. Er sieht sie an, sieht jeden Leberfleck an ihr. Er streckt sich und geht zum Bett. Er setzt sich neben sie. Er sieht ihr Gesicht an, sieht jedes Fältchen in ihm. Sie riecht nach seiner Seife. Sie riechen beide gleich. Er legt eine Hand auf ihre Schulter. Er legt sich hin und reißt sie mit sich. Er zieht die Decke hoch. In ihrer Nähe ist es warm.
Sie dreht sich weg von ihm. Sie greift nach mehr Decke und klemmt sich etwas davon zwischen die Knie. Er riecht wie sie. Sie riechen beide gleich. In seiner Nähe ist es warm. Sie schläft ein.
Er wacht auf, mit ihr im Arm. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich unter seinem Arm. Seine Hand liegt auf ihrem Bauch. Ihre Haut ist weich. Er hört ihren Atem. Er hört seinen Atem. Sie atmen im selben Rhythmus. Er steht auf, geht ins Bad und hängt das Handtuch auf. Er rasiert sich und geht in die Küche.
Sie wacht auf. Er ist nicht da. Das Bett riecht noch nach ihm. Aber seine Wärme ist nur noch ein Schatten. Sie steht auf. Sie hört ihn in der Küche. Sie geht ins Bad und wäscht sich das Gesicht. Bartstoppeln hängen noch im Waschbecken. Sie geht in die Küche.
Auf der Bar stehen zwei Teller, auf jedem ein Brötchen. Dazu eine Tasse, aus der dampft. Er sitzt auf einem Barhocker. Er sieht sie an. Sie sieht ihn an. Sie setzt sich zu ihm auf den anderen Barhocker. Sie schmieren die Brötchen, essen sie und trinken etwas.
Sie rutscht vom Barhocker herunter und verlässt die Küche. Sie sammelt ihre trockenen Klamotten ein und zieht sich im Schlafzimmer an. Er folgt ihr. Er zieht sich an.
Sie geht ins Bad und spült sich den Mund aus. Sie geht in den Flur. Sie zieht sich ihre Schuhe an und macht die Tür auf. Sie läuft die Treppe herunter. Bei dem Hinterhoffenster dreht sie sich um.
Er sieht ihr nach. Er sieht sie an, sieht sie. Sie sieht zurück. Sie sieht ihn an, sieht ihn. Er will etwas sagen. Sie schüttelt den Kopf. Er sieht sie an. Sie nickt. Sie läuft die Treppen herunter. Sie öffnet die Haustür.
Die Sonne scheint.

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