Sonntag, 4. Dezember 2011

Josuns Baum

Josun wachte auf. Sein Haus vibrierte. Es musste mitten in der Nacht sein, hatte er doch das Gefühl sich eben schlafen gelegt zu haben. Er stand auf und ging in seinem Nachthemd zur Tür. Er öffnete sie zaghaft. Ihm kam das Vibrieren doch reichlich komisch vor. Noch nie hatte sein Haus vibriert. Häuser sind ja auch nicht dazu da zu vibrieren, sie sollen bitte still stehen, vor allem wenn man in einem Haus wie Josuns wohnt. Josun wohnte nämlich in einem Baum. Um genau zu sein wohnte er in dessen Wurzelwerk und seine Haustür war unweit von dem Baum entfernt. Josun mochte kein Tageslicht in seiner Wohnung, ein paar Kerzen reichten ihm völlig aus. Josun war ein Zwerg und er teilte sich den Baum mit einer Elfenfamilie, die im Geäst des Baumes wohnte.
Sie hatten eine Abmachung mit dem Baumgeist, der den Baum beseelte: Kümmerten sie sich um Blatt- und Wurzelwerk, also die Elfen um die Blätter und der Zwerg um die Wurzeln, dann duldete er sie und schenkte ihnen Schutz und Wärme. Und das taten sie nun schon sehr lange. Sie sorgten dafür, dass die Blattläuse sind zu viel Unfug trieben, der Zwerg hielt Ungetier von den Wurzeln fern. Aber der Zwerg tat noch etwas Anderes: Er kümmerte sich darum, dass die anderen Zwerge einen Bogen um den Baum machten. Zu gerne hätten sie in abgeholzt, um Feuerholz aus ihm zu machen, aber Josun hielt sie davon ab. Wie genau er das anstellte, verriet er keinem, aber die Zwerge kamen nicht. Josun reichte die Wärme, die der Baumgeist ihm schenkte, er musste nicht mit Holz heizen.
Die anderen Zwerge wohnten aber auch nicht in Bäumen, sie wohnten in Höhlen und kümmerten sich eigentlich auch nur um sich. Es waren keine angenehmen Genossen. Deswegen hatte er sie auch vor langer Zeit verlassen. Zwergen sind kleine, zähe Gestalten und Zipfelmützen tragen sie nur in den Phantasien von Menschen. Auch schieben sie keine Schubkarren vor sich her. Diese rotwangigen, dicklichen, niedlichen Gestalten, die bei manch einem im Garten stehen, haben nichts mit eigentlichen Zwergen zu tun. Zwerge sind sehr klein, haben spitze Nasen und spitze Ohren. Sie kleiden sich mit Fellen und Tierhäuten und ihr Körperbau ist drahtig. Arme und Beine sind sehnig und stark behaart. Auf Josun traf all dies zu, nur seine Kleidung unterschied sich erheblich von der eines Durchschnittszwerges. Ihm waren Flechten und Moose viel lieber als Tierfelle, denn er jagte nicht. Er kochte sich auch keine deftigen Fleischmahlzeiten, vermutlich war er der einzige vegetarische Zwerg, den diese Welt je gesehen hat. Die Elfen in seinem Baum hatten ihm auch Kleidung aus ihren Stoffen geschneidert.
Elfen sehen auch nicht aus wie die auf den Postkarten und Bilderchen, die sich die Menschen manchmal schenken. Auch unter ihnen gibt es grobschlächtige Erscheinungen, aber die meisten waren von kleinem, zarten Wuchs, wenn auch um einiges größer als Zwerge. Sie konnten gut mit leichten Waffen umgehen, aber die Zwerge, die mit Josun den Baum teilten, waren nicht bewaffnet. Sie lehnten Waffen ab und waren eher auf Konsens aus als Konfrontation. Die trugen ihr Haar lang in Zöpfen. Ihre feingliedrigen Finger kannten allerhand Handwerke und so hatten sie sich ein kleines Haus aus totem Holz in den Baum gezimmert. Sie schneiderten dem Zwerg Kleidung und dafür kochte er für sie. So kamen sie wenigstens drei Mal am Tag gemeinsam an einen Tisch. Aber da der Zwerg das Kochen so liebte, fanden sie sich häufig auch öfter dort ein.
Josun stieß seine Haustür auf und wurde von der aufgehenden Sonne überrascht. Also war es doch nicht so spät, wie er gedacht hatte. Die Elfen huschten schon durch das Geäst. In ihren Augen sah er deutlich den Schrecken, den das Vibrieren ihnen wohl eingejagt haben muss. "Was ist geschehen?", rief er ins Geäst. "Die Bäume fallen!", schrie eine kleine Elfin. "Wir sehen es ganz deutlich und es fallen immer mehr.", ergänzte ein größerer Elf. "Ich kann nicht zu euch hoch klettern, mögt ihr herunterkommen? Ich habe auch ein Frühstück für euch.", fragte Josun. "Wir kommen gleich zu dir.", antwortete der größere Elf und wandte sich von Josun ab. Dieser verschwand wieder in seinem Haus und deckte geschwind den Tisch. Es waren viele Elfen, also beanspruchte es immer eine gewisse Zeit, den Tisch hübsch zu machen, aber Josun war davon überzeugt, dass Schönheit heute nicht so wichtig war.
Josun klopfte energisch an das Holz des Baumes: "Baumgeist, willst du mit uns essen?", fragte er. Es knirschte laut und eine Rauchschwade stieg aus dem Holz. "Du weißt, dass ich nicht im eigentlichen Sinne essen kann. Aber ich denke, ich sollte euch Gesellschaft leisten." Noch mehr Rauch waberte aus dem Holz und füllte den Raum soweit, dass eine Elf gerade so noch stehen konnte, ohne mit dem Geist zu kollidieren. Und da kamen sie auch schon. Sie kamen geduckt durch die Eingangstür, durch die Josun auch nur gerade so passte, und setzten sich alle auf ihre angestammten Plätze. Der größere Elf trat als Letzter ein und guckte so gleich zur Decke: "Ah, ich sehe, du hast unseren Gastgeber auch eingeladen. Gut so." Mit diesem Worten setzte sich der Elf. Er hatte ein sehr anmutige Gestalt und war der Älteste. Er hatte vor kurzer Zeit den Platz der Ältesten eingenommen, die bei einem Sturz von Baum umgekommen war.
Josun reichte einen Korb mit geschnittenem Brot und eine Karaffe mit Beerensaft herum. Alle nahmen sich und schenkten sich ein. Dann regte sich der Baumgeist, seine Stimme klang unangenehm schneidend: "Meine Lieben, wie ihr sicherlich bemerkt habt, ist dies kein sicherer Ort mehr für uns. Wir müssen fliehen, uns einen neuen Baum suchen." Die jüngeren Elfen verfielen in einen leises Schnattern. Sie kannten nur diesen Baum, kein anderer Baum, so waren sie der Meinung könne ihnen ein solches Heim bieten. Josun trank einen kräftigen Schluck und erhob die Stimme: "Wo sollen wir hin? Habt ihr von eurem Haus aus einen Ort gesehen, wo die Bäume stehen bleiben?" Er wandte sich direkt an die Elfen. "Nein, jeden Ort, den wir von dort aus sehen können, ist von den fallenden Bäumen betroffen. Wir werden lange wandern müssen. In unseren Geschichten existiert ein Ort, der Ewiger Wald heißt, aber der ist weit weg von hier und weder Zwerge noch Baumgeister dürfen dort hinein.", sagte der Älteste. "Dann werden sich unsere Wege hier trennen müssen.", man merkte dem Baumgeist seinen Unmut an. "Nein, ich möchte mit euch gehen. Ich möchte bei euch allen bleiben und nicht nur bei einem Teil von euch.", Josun hatte sich so an den Baumgeist und die Elfen gewöhnt und sie mochte sie aufrichtig. Er konnte sich ein Leben ohne sie kaum vorstellen. Der Älteste nahm seinen letzten Bissen Brot und spülte ihn mit Saft herunter. "Nun gut, wenn ihr bei uns bleiben möchtet, dann werden wir uns gemeinsam auf die Suche nach einem neuen Heim begeben. Wie viel Proviant kannst du heute herstellen?", er schaute Josun fragend an. "Wenn wir sparsam sind, reicht es eine ganze Weile.", erwiderte er. "Wir werden sparsam sein müssen, denn der Weg wird lang. Nun Josun, deine Aufgabe ist klar. Baumgeist, wie tief reichen die Wurzeln dieses Baumes?", der Älteste schaute zur Decke. "Sie reichen sehr tief." "Kannst du ergründen, ob die tiefsten Wurzeln, die du findest, denen anderer Bäume begegnen und in Erfahrung bringen, ob diese auch fallen?", der Älteste hatte offensichtlich einen Plan. "Ja, das kann ich, wenn diese Bäume auch von einem Baumgeist beseelt sind.", der Baumgeist wollte den Raum schon wieder durch die Wände verlassen, aber der Älteste hielt ihn noch kurz zurück. "Berichte mir zu Sonnenuntergang, was du erfahren hast." Der Baumgeist verschwand und die Luft in Speiseraum wurde merkbar leichter.
Josun stand auf und begann den Tisch abzuräumen, die kleineren Elfen halfen ihm dabei. Sie tuschelten immer noch und Josun merkte, dass ihnen der Gedanke, den Baum zu verlassen Angst machte. Elfen sind nicht gern auf dem Erdboden unterwegs und die Aussicht auf einen lange Wanderung schien bei keinem anwesenden Elfen Behagen hervorzurufen. Nachdem der Tisch sauber war, trollten sich die jüngeren Elfen aus dem Haus des Zwergen und es blieben nur die älteren Elfen bei ihm. "Wo sollen wir nur hin?", eine Elfin mittleren Alters sah sehr besorgt aus. "Mach dir keine Sorgen, der Baumgeist wird es uns heute Abend sagen können.", beschwichtigte sie der Älteste. "Aber bis dahin sollten wir abreisefertig sein. Also sammelt eure Kinder ein und packt euer Hab und Gut. Nehmt nur das Nötigste mit, denn der Weg wird lang. Ich bleibe bei Josun und helfe ihm, unser Proviant herzustellen.", der Älteste legte Josun eine Hand auf die Schulter und wies die anderen Elfen aus Wohnung.
Josun zeigte dem Ältesten, wie man Brot herstellt, wie man Obst einkocht und Gemüse einlegt. Die Elfen nahmen in Geäst das Haus auseinander, packten ihre sieben Sachen und verstauten sie in handlichen Säcken, die sie problemlos auf dem Rücken tragen konnten. Sie besohlten alle Schuhe frisch und flickten ihre Kleidung. Der Baumgeist drang tief ins Erdreich ein und erforschte das Wurzelwerk des Baumes. Er folgte den Wurzeln anderer Bäume, die er am Ende jener seines Baumes gefunden hatte und traf ab und zu auf einen auskunftwilligen Baumgeist. Die meisten hatten schon lange nicht mehr mit jemanden gesprochen und wollten den Baumgeist für ein längeres Gespräch beanspruchen, aber als sie erfuhren, wie ernst die Lage seines Baumes war, ließen sie sehr schnell ab von ihrer fixen Idee und rangen ihm nur das Versprechen ab, sie zu besuchen, wenn er einen neuen Baum gefunden hat.
Und so trafen sie alle am Abend wieder in der Wohnung des Zwerges zusammen. Es gab einen deftigen Gemüseeintopf und einen warmen Tee. Der Kessel stand dampfend neben dem Tisch und die Elfen standen in einer Reihe und warteten darauf, dass ihre Schüssel gefüllt wird. Die jüngsten zuerst, so war es üblich, denn sie mussten noch wachsen, dann die Alten und zum Schluss die mittleren Alters. Als alle vor ihrer vollen Schüssel saßen, jeder mit einem Löffel in der Hand und gerade anfangen wollten, füllte sich der Raum mit Nebel. Der Baumgeist war eingetroffen. "Oh, wie das duftet. Wenn ich das rieche, wünsche ich mir immer, ich könnte auch essen, wie ihr es könnt. Lasst euch nicht stören. Esst ruhig, während dessen kann ich euch von meiner Reise erzählen." Der Baumgeist schien erheblich bessere Laune zu haben als noch am Morgen. Ach war der Raum bedeutend wärmer als am Morgen. "Also ich habe also die Aufgabe übernommen, in Erfahrung zu bringen, ob es einen Ort gibt, der nicht von fallenden Bäumen betroffen ist..." Der Geist erzählte lange und ausführlich von den anderen Baumgeistern, die er tagsüber kennengelernt hatte. Er schien gar nicht zu einem Ende kommen zu wollen, aber der Älteste und Josun sagten nichts, denn sie ahnten, dass das ein gutes Zeichen war. Der Raum heizte sich immer mehr auf und als die vierte Runde Suppe gerade ausgelöffelt war, es hatte ja kein Mittag gegeben, verstummte der Baumgeist. "Was ist, warum sprichst du nicht weiter? Ich wusste gar nicht, dass es so unterschiedliche Baumgeister gibt.", Josun drehte seinen Stuhl, während er das sagte, wieder zum Suppenkessel, um den Elfen, die noch Hunger hatten, eine fünfte Runde aufzuschöpfen. "Nun...", der Baumgeist räusperte sich, was in etwa so klingt als würde ein dicker Ast brechen, die kleinen Elfen guckten ganz erschrocken um sich, "der letzte Baumgeist, den ich traf, war schon sehr alt, er hatte schon viel erlebt und als ich ihm von unserem Problem berichtete, wusste er wovon ich sprach. Er hat das auch schon erlebt. Er lebt in einer sicheren Gegend, dort fallen keine Bäume." "Und du bist dir sicher, dass er nicht im Ewigen Wald lebt?", fragte Josun besorgt. "Er kann nicht im Ewigen Wald leben, dort gibt es keine beseelten Bäume.", stellte der Älteste erleichtert fest. "Kannst du uns dort hinführen?", fragte er den Baumgeist. "Ja, das kann ich.", antwortete er "Aber der Weg wird lang und beschwerlich." "Ich denke, dass das hier jedem bewusst ist, aber unser Heim fällt, also müssen wir weichen, so beschwerlich der Weg auch sein mag." Der Älteste putzte sich den Mund ab. Eine kleine Elfin stieg auf ihren Stuhl und stimmte ein Freudenlied an. Ihr fröhlicher Gesang steckte alsbald alle an und so sangen sie alle aus vollem Herzen mit. Auch der Baumgeist versuchte sich daran, aber er begnügte sich letztendlich damit, zu zuhören.
Spät in der Nacht verließen alle Josuns Wohnung, um noch ein wenig Schlaf zu bekommen, bevor die große Wanderung am nächsten Tag ins Haus stand. Josun wusch sich und zog sein Nachthemd über. Zuvor hatte er noch das Geschirr weggeräumt. Das würde er hier lassen müssen, so sehr es ihm auch ans Herz gewachsen war. In den Wänden nahm er ein leises Säuseln wahr, der Baumgeist schlief also schon. Er wollte gerade die Augen schließen, als plötzlich ein Ruck durch den gesamten Baum fuhr. Er sprang aus dem Bett und hämmerte wie von Sinnen gegen die Wand. "Baumgeist! Wir werden in den nächsten Minuten fallen." Aufgeregt zog er sich um und schrie aus seiner Haustür zu den Elfen: "Wir fallen!" Die Elfen wankten bereits hektisch durch das Blattwerk des Baumes. Jeder suchte nach seinem Päckchen, was er tragen sollte und sie warfen dem Zwerg seines herunter. Er schnürte es sich auf den Rücken und band seine Schuhe fest zu. Nacheinander kamen die Elfen aus dem Baum. Die kleinsten schwankten noch etwas schlaftrunken um die älteren herum. Der Baumgeist stieg aus dem Baum heraus. Nachts würde er gut zu sehen sein, ging doch ein grüner Schimmer von ihm aus, aber tagsüber... Josun wurde bang ums Herz, ob es so eine gute Idee war, sich auf den Geist als Führer zu verlassen?
Es krachte nochmals laut, der Baum kippte nach und nach zur Seite. Josun schaute noch einmal zurück. Er konnte sein Heim nicht ohne ein paar Tränen verlassen. Er blickte zum Ältesten herauf. Auch er hatte Tränen in den Augen: "Es war ein guter Baum, aber es ist Zeit zu gehen." Und so ging der Älteste mit Josun voran. Der Baumgeist war ihnen schon etwas vorausgeeilt. Die Luft war eisig. Josun hörte die kleinen Elfen weinen und die Beschwichtigungen der anderen Elfen. Sie stiegen auf eine Anhöhe. Es war anstrengend mit so vollem Magen eine solche Steigung zu bezwingen, aber sie nahmen es ohne Jammern auf sich. Ihr Baum jauchzte nochmals lauf auf, dann hörten sie wie das Geäst auf den Boden zerbrach. Sie hatten den höchsten Punkt erreicht. Vor ihnen eröffnete sich eine beunruhigende Aussicht. Die Sonne streckte gerade ihre ersten Strahlen über den Horizont und beleuchtete so die Szenerie, die sich ihnen darbot. Überall gefallene Bäume. Etwas in Josun zerbrach.